Das Glück kommt manchmal, wenn man am wenigsten danach sucht. Für Tom öffnete sich nach einem Irrgang durch dichten Nebel buchstäblich ein Fenster zur Liebe …

 

Es war ein trüber Novemberabend, als Tom im Gewirr der Altstadtgässchen den Paracelsusweg suchte. Seine Schwester hatte ihn zur Einweihungsparty in ihre neue Wohnung eingeladen.

„Da bist du ja“, rief Marlene und umarmte ihn. „Und wo ist deine Freundin? Oder bist du schon wieder unbeweibt?“

„So ist es“, antwortete Tom kurz angebunden. Er kannte das: Seine Schwester sähe ihn zu gern in festen Händen, doch noch zog er seine Freiheit vor. Wenn die Richtige kam, würde er es schon merken, dazu brauchte er Marlene nicht. Aber sie konnte es auch diesmal nicht lassen: „Ich habe zwei neue Kolleginnen eingeladen, die werden dir gefallen“, flüsterte sie ihm zu. Tom verdrehte die Augen.

Wie immer ging es auf Marlenes Party locker zu. Selbstbedienung bei den Getränken, zum kalten Buffet hatte jeder Gast etwas beigetragen, die CD-Sammlung enthielt für jeden Musikgeschmack etwas. Es war ein amüsanter Abend, die Gäste waren nett, Tom unterhielt sich blendend, tanzte mal mit der, mal mit jener. Gerade als er herausfand, dass die attraktive Blonde Single war, winkte ihn Marlene in die Küche.

„Du, Tom, der Sekt ist fast alle“, sagte sie leise. „Kannst du schnell welchen besorgen?“

„Ausgerechnet jetzt! Es ist nach elf“, wandte er ein.

„Die Tankstelle hat noch offen, die ist ganz in der Nähe“, erklärte Marlene. Sie drückte ihm Geld in die Hand und schob ihn mit einer vagen Wegbeschreibung hinaus. „Und beeile dich, bitte, ja?“

*

Als Tom auf die Straße trat, empfing ihn ein unglaubliche Nebelsuppe, so dicht, dass er die Häuserfront gegenüber nur verschwommen sah. Und die Jacke hatte er auch vergessen! Sollte er noch einmal rauf gehen und sie holen? Ach was, dachte er, es ist ja nicht weit. Er zog den Kopf ein, steckte die Hände in die Taschen und stapfte los. Zweimal rechts und einmal links, hatte Marlene gesagt. Eher zufällig fand er die Hauptstraße und folgte ihr, bis das leuchtende Schild der Tankstelle aus dem Nebelschleier auftauchte. Er kaufte drei Flaschen Sekt und machte sich auf den Rückweg. Schon nach Minuten kroch die feuchte Kälte durch seine Kleidung. Der Nebel war noch dichter geworden, er sah kaum die Hand vor Augen. Nach Gefühl bog er irgendwann von der Hauptstraße ab. In den schmalen Gassen verlor er schnell die Orientierung. Nach zehn Minuten, in denen er planlos mal links, mal rechts abgebogen war, tauchte am Ende der Gasse schemenhaft jemand auf.

„Hallo“, rief Tom und winkte heftig. Die Gestalt stockte, begann dann zu laufen und verschwand im nächsten Hauseingang.

„Vielen Dank auch“, murrte Tom zähneklappernd. Er fror ganz erbärmlich, sein Hemd war feucht, die Haare klebten am Kopf, die Hände waren klamm. Zu dumm, sein Handy steckte in der Jackentasche, sonst hätte er Marlene anrufen oder ein Taxi bestellen können. Stattdessen irrte er hier durch die Gassen, und morgen hatte er eine Lungenentzündung – mindestens!

*

Plötzlich schimmerte es von der anderen Straßenseite hell durch die Nebelschwaden. Schnell überquerte er die Gasse. Zwei beleuchtete Fenster – das war seine letzte Chance!

Er klopfte an die Scheibe. Das Fenster öffnete sich.

„Was gibt’s denn?“, fragte eine hellwache Frauenstimme nicht unfreundlich.

„Entschuldigung, ich suche den Paracelsusweg“, kam Tom gleich zur Sache. „Ich habe mich verirrt … und verflixt kalt ist es auch.“

Sie musterte ihn von oben bis unten, wie er da schlotternd in Hemdsärmeln vor ihrem Fenster stand.

„Das sieht man“, stellte sie fest. „Du hast wohl die Jahreszeiten verwechselt?“ Ein belustigtes Lächeln glitt über ihr Gesicht, das Tom wie ein wärmender Sonnenstrahl traf. „Du siehst ja zum Erbarmen aus.“

„So fühl ich mich auch“, erwiderte er und grinste schief. „Aber mit deiner Anteilnahme geht es mir gleich viel besser.“

„Paracelsusweg?“ Sie überlegte kurz. „Ach, das ist nur um ein paar Ecken, ein bisschen schwierig zu erklären … Du musst nach der Bäckerei rechts und dann durch die Feldergasse bis zum …“

„Langsam, langsam“, unterbrach Tom, und seine Verzweiflung war nicht gespielt. „Wo ist da eine Bäckerei? Bei dem Nebel sieht man ja rein gar nichts, und, wenn ich mich noch mal verirre, hol mir ganz sicher den Tod.“

„Das wäre natürlich entsetzlich“, erwiderte sie ironisch. „Weißt du was, ich werfe mir schnell was über und bring dich.“

Damit schloss sie das Fenster. Verdutzt stand Tom da – mit so viel tatkräftiger Hilfe hatte er nicht gerechnet. Gleich darauf trat eine zierliche Frau mit langen dunklen Haaren aus der Tür.

„Hier“, sagte sie und streckte ihm einen Anorak entgegen. „Den hat mein Bruder kürzlich bei mir vergessen.“

„Du meinst es wirklich gut mit mir“, sagte Tom und griff dankbar nach der Jacke. Als sich dabei ihre Hände berührten, durchzuckte es Tom wie von einem elektrischen Schlag. Auch ihre Hand verhielt einen Moment in der Luft, als hätte sie ihn auch gespürt.

„Gehen wir“, sagte sie und ihre Stimme klang plötzlich weich und dunkel. Eine kurze Pause entstand.

„Fürchtest du dich eigentlich nicht – allein mit einem wildfremden Typen im Nebel?“, fragte Tom dann. „Was da alles passieren könnte …“

„Ich bin sicher, so ein frierender, durchnässter Mann wie du hat andere Sorgen“, meinte sie forsch. „Im Übrigen verlasse ich mich auf meine Menschenkenntnis.“

„Und was besagt die in meinem Fall?“, wollte er wissen.

„Das … das … musst du schon selber herausfinden“, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme wieder nach Samt und Seide.

„Nichts lieber als das“, meinte er. „Wir könnten …“

„So, da sind wir“, unterbrach sie ihn.

„Du, ich habe eine Idee“, schlug er vor. „Komm doch mit rauf, meine Schwester feiert ihre Einweihungsparty. Ich möchte nämlich am liebsten sofort mit dem Herausfinden anfangen.“

„Bist du sicher?“ fragte sie.

Er nickte und griff an ihr vorbei zur Klingel. Danach legte er ihr wie selbstverständlich den Arm um die Schultern. So stiegen sie den Treppe hoch.

„Da bist du ja endlich!“, empfing ihn Marlene und stutzte, als sie Tom in Begleitung sah. „Oh … du bringst jemand mit, wie schön.“

„Das ist …“, begann Tom und stockte. „Wie heißt du eigentlich?“

„Anne. Und du?“, wollte sie wissen und schaute zu ihm auf.

„Anne“, wiederholte er langsam, als würde er dem Klang nachhorchen. „Ich bin Tom“, fügte er dann hinzu und hielt ihren Blick fest.

Es knisterte unüberhörbar zwischen den beiden. Melanie sah ihren Bruder überrascht an. So berührt kannte sie ihn gar nicht. Sie spürte deutlich, dass es gefunkt hatte zwischen Tom und Anne.

„Kommt rein, ihr beiden“, sagte sie herzlich. Ich wette, diesmal hat es ihn erwischt, dachte sie und lächelte zufrieden in sich hinein.