Sarah K. (32): Julian war die Liebe meines Lebens. Als er mich heiraten wollte, schwebte ich auf Wolke sieben. Da schien es mir ein geringer Preis zu sein, dass Julian keine Kinder haben wollte. Doch ich sollte mich irren…

 

„Bitte, Sarah, werde meine Frau!“

Noch heute sehe ich Julian vor mir, wie er am Strand bei Sonnenuntergang um meine Hand anhält. Ich war die glücklichste Frau der Welt! Dieser romantische Urlaub auf den Seychellen hatte mich einmal mehr darin bestätigt, in Julian meinen absoluten Traumprinzen gefunden zu haben. Die letzten zwei Wochen waren fantastisch gewesen, wir hatten uns einfach blendend verstanden und das luxuriöse Hotel in vollen Zügen genossen. Natürlich sagte ich ohne zu zögern Ja! Einem Mann wie Julian, dachte ich, begegnet man nur ein Mal im Leben.

Am Abend, nach dem Antrag, sprachen wir darüber, wie wir uns die Ehe vorstellten und schwärmten von der Zukunft. Da machte Julian mir sein Geständnis.

„Ich möchte keine Kinder.“ Er war sehr deutlich. Julian wollte das Leben mit mir genießen, mich nicht teilen, unser luxuriöses Leben nicht einschränken. Außerdem, das kam noch hinzu, mochte er einfach keine Kinder. Sie gingen ihm auf die Nerven, sagte er, das Schreien und auch die Tatsache, dass Kinder immer forderten. Ich hatte mir noch keine Gedanken über Kinder in meinem Leben gemacht. Damals war ich erst fünfundzwanzig. Es war für mich kein Problem, Julian zu sagen, dass ich mein Leben in erster Linie mit ihm verbringen wollte. Wenn das bedeutete, keine Kinder zu haben, war das für mich eben der Preis, den ich bezahlte. Ich ahnte ja damals nicht, wie hoch er sein würde.

„Wenn ich mit dir zusammen sein kann, ist das unwichtig“, antwortete ich ihm also und Julian strahlte mich an. Ich war sehr verliebt in diesem Moment.

Zunächst widmete ich mich meiner Karriere. Ich hatte Betriebswirtschaft studiert und leitete die Einkaufsabteilung eines deutschlandweit bekannten Unternehmens. Es machte mir unheimlichen Spaß und füllte mich aus. Meine Freizeit verbrachte ich mit Julian. Wir konnten uns alles leisten, was wir wollten, gingen abends fast immer auswärts essen, genossen unsere schicken Autos und wohnten in einer fantastischen, riesigen Altbauwohnung, die wir mit futuristischen Designermöbeln ausgestattet hatten. Unsere Urlaube verbrachten wir vorzugsweise in teuren Luxushotels, bevorzugt machten wir Fernreisen. Es hätte alles ewig so weitergehen können, denn Julian und ich waren wirklich glücklich miteinander und auch mit unseren Lebensumständen. Hätte mich damals jemand gefragt, ob ich etwas ändern wollte oder mir Kinder vorstellen konnte, ich hätte das mit Sicherheit verneint. Ich nahm seit Jahren die Pille.

Doch dann blieb vor vier Jahren plötzlich meine Regel aus. Da ich konsequent verhütet hatte, dachte ich mir erst gar nicht so viel dabei und suchte meinen Gynäkologen auf, damit dieser abklärte, was mit mir los war. Ich dachte an Hormonstörungen oder eine Unverträglichkeit der Antibabypille.

Doch als er mich eingehend untersucht hatte, sagte er etwas, das mich völlig aus der Bahn warf. „Herzlichen Glückwunsch, Frau K., sie sind schwanger!“

Ich war total von den Socken. Ich und schwanger? Nein, das konnte einfach nicht sein. „Sind Sie sicher?“, fragte ich den Arzt.

Er war natürlich sicher. Ich war in der sechsten Woche schwanger und wusste weder ein noch aus. Verwirrt und aufgeregt verließ ich die Praxis. Wie sollte ich das nur Julian sagen? Seine Meinung zu Kindern hatte sich nicht geändert. Immer mal wieder sagte er, dass er froh war, mich an seiner Seite zu haben – eine Frau, die wie er keine Kinder wollte. Und jetzt war ich schwanger! Im Stadtpark setzte ich mich auf eine Bank. Es war mitten am Tag und der Park war bevölkert von Müttern mit ihren Kinderwägen. Konnte ich mir das für mich vorstellen? Ich wusste es nicht. Meine Gefühle waren total widersprüchlich. Ich musste dringend mit Julian sprechen. Er war mein Halt im Leben. Bestimmt würde er mir zur Seite stehen.

Am Abend, als Julian von der Arbeit kam, fand er mich weinend auf dem Sofa.

„Sarah? Um Himmels willen, was ist denn los?“ Julian sah ganz bestürzt aus und schloss mich in seine Arme.

„Ich bin schwanger“, schluchzte ich an seiner Schulter. „Was machen wir denn nur?“

Da befreite sich Julian aus unserer Umarmung und schaute mir fest in die Augen. „Aber Sarah, heutzutage ist das doch kein Problem mehr.“ Er wischte mir die Tränen aus den Augen. Julian lächelte mir aufmunternd zu. Im ersten Moment verstand ich gar nicht, was er mir da sagen wollte. Doch dann wurde mir klar, dass er von einem Schwangerschaftsabbruch sprach. Er meinte, in der sechsten Woche der Schwangerschaft sei das doch ohnehin keine große Sache, überhaupt bis zur zwölften Woche wäre eine Abtreibung erlaubt. Julian wirkte ganz sachlich und emotional total unbeteiligt.

„Können wir nicht wenigstens darüber nachdenken, das Kind zu bekommen? Ich meine, jetzt wo ich schwanger bin?“

Der Gesichtsausdruck von Julian verhärtete sich. „Sarah, wir waren uns doch einig!“, sagte er entschlossen. „Wenn du das Kind bekommen willst, wirst du das ohne mich tun müssen.“

Mit diesen Worten stand er auf und ließ mich allein mit meinen Tränen und dem Gefühl totaler Ausweglosigkeit. Ich war unglaublich verzweifelt und fühlte mich völlig verloren. Ein kleiner Teil von mir hatte doch gehofft, dass Julian sich umentscheiden würde, vielleicht sogar ein wenig Freude aufbringen könnte, wenn er sich erst an den Gedanken eines Kindes gewöhnt hatte. Doch seine Reaktion hatte mir gezeigt, dass auf ihn nicht zu zählen war. Und wie sollte ich es allein schaffen, ein Baby zu bekommen und es großzuziehen? Noch dazu, wo ich mir gar nicht sicher war, ein Kind zu wollen? Bis vor dem Frauenarzttermin war ein Kind in meiner Lebensplanung schließlich genau so wenig vorgesehen wie bei Julian. Dazu kam noch, dass ich Julian von Herzen liebte. Meinen Mann zu verlieren und dann alleine da zu stehen war nun wirklich nicht die ideale Situation, um auch noch ein Kind in die Welt zu setzen. Egal wie ich es drehte und wendete, die Lage war schwierig und ausweglos. Am Ende siegte meine Angst, Julian würde mich verlassen. Außerdem war da das Gefühl, maßlos mit einem Kind überfordert zu sein, noch dazu alleine. Ich entschloss mich nach tagelangem Nachdenken zu einem Schwangerschaftsabbruch. Es war eine Zeit voller Schmerzen und Leid. Egal, warum eine Frau sich zu einer Abtreibung entschließt, ich bin sicher, es ist nie einfach. Aber ich hatte ja Julian. Das tröstete mich schon. Er war da, begleitete mich zu allen Terminen und stand mir zur Seite. Selbst in die Abtreibungsklinik begleitete er mich und war da, als ich nach dem Eingriff weinend in meinem Bett aufwachte. Stets bestätigte er mich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Trotzdem wäre es natürlich gelogen, wenn ich behaupten würde, dass der Eingriff ohne Folgen geblieben wäre. Da war die stete Frage, was gewesen wäre, hätte ich anders entschieden. Und selbstverständlich war da auch die Trauer um ein Kind, das ich hätte haben können. Aber ich versuchte, all das bestmöglich zu verdrängen. Ich arbeitete bis zu vierzehn Stunden täglich, verplante meine Freizeit bis zur letzten Minute und klammerte mich an den Gedanken, dass ich meinen geliebten Julian für mich behalten hatte. Ich hatte also meine emotionale Situation einigermaßen im Griff. Bis zu dem Tag, an dem meine Schwester mir mitteilte, dass sie ein Kind bekam.

*

Es war ein traumhafter Sommertag. Ich weiß noch, dass ich mir mit Mühe eine halbe Stunde Zeit mittags freigeschaufelt hatte, um Astrid, meine kleine Schwester, endlich ein Mal wiederzusehen. Wir saßen in einem hübschen Straßenlokal und sie rückte sofort freudestrahlend mit der Neuigkeit heraus. „Sarah, du wirst Tante! Ist das nicht fantastisch?“

Natürlich freute ich mich für sie. Astrid war meine Schwester und ich wollte, dass sie glücklich war. Doch als die Schwangerschaft immer weiter fortschritt, merkte ich, wie schwer es war, den Gedanken an meine eigene, kurze Schwangerschaft zu verdrängen. All die beiseite geschobenen Bilder aus der Zeit der Abtreibung überfielen mich immer wieder. Als dann der kleine Benni auf der Welt war, wurde es nur noch schlimmer. Er war einfach zauberhaft! Sein zahnloses Lächeln, die Art, wie er schmatzte oder vor sich hin gluckste, ließ nicht nur mein Herz höher schlagen, sondern erinnerte mich fast schon grausam daran, was ich hätte haben können. Mein Kind wäre jetzt schon vier Jahre alt. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich niemals eine so tolle Mutter gewesen wäre, wie Astrid eine war. Ich dachte daran, dass ich Julian verloren hätte, wenn ich mich für mein Kind entschieden hätte. Trotzdem fand ich mich immer wieder leise weinend im Badezimmer eingeschlossen – denn Julian sollte nichts von meiner Trauer merken. Er hätte mich nicht verstanden.

Eines Tages dann klingelte das Telefon in meinem Büro und Astrid war dran. Sie war total krank, hatte schlimmes Fieber und konnte sich nicht um Benni kümmern.

„Bitte, Sarah, kannst du dir nicht freinehmen und den Kleinen ein paar Stunden betreuen?“

„Äh, also, ich glaube nicht, dass ich das kann!“, versuchte ich abzuwehren. Tatsächlich machte mir der Gedanke, ein so kleines Kind zu versorgen, beträchtlich Angst. Ich war in diesem Bereich ja gänzlich unerfahren, so sehr ich den kleinen Kerl auch mochte.

„Bitte, Sarah, ich kann einfach nicht mehr.“ Astrid schluchzte verzweifelt. Sie hatte wohl die ganze Nacht kaum geschlafen, ihr Mann war auf Geschäftsreise und sie konnte sich vor Gliederschmerzen kaum bewegen. Also willigte ich ein. Sie war schließlich meine Schwester. Ich konnte sie einfach nicht im Stich lassen. Als ich bei ihr zu Hause ankam und sie mir das kleine Bündel Mensch in den Arm legte, fühlte ich mich zunächst unglaublich hilflos. Doch Benni war ein geduldiger Lehrer. Er grinste mich an und gluckste vor Freude, als er mich sah. Wir verbrachten einen entspannten Nachmittag miteinander. Er schlief in seinem Kinderwagen und wenn er wach war, spielte ich mit ihm, tröstete ihn, gab ihm sein Fläschchen, kurz: Ich tat alles, was Astrid eben auch tat. Und es fühlte sich so wunderschön an. Es war das mit Abstand Schönste, was ich seit Langem getan hatte. Als ich Benni am Abend zu Astrid brachte, wusste ich, dass ich nicht mehr länger so tun konnte, als ob nichts geschehen wäre. Mir war klar, dass die Abtreibung der größte Fehler meines Lebens gewesen war. Ich hatte mein Kind aus reinem Egoismus aufgegeben und stellte jetzt fest, dass ich völlig falsch gehandelt hatte. Denn dieses wundervolle Gefühl bedingungsloser Zuneigung, das ich in der Zeit mit Benni erahnte, hatte ich nie zuvor verspürt, auch nicht gegenüber Julian, obwohl ich ihn liebte. Was blieb, war ein Gefühl totaler Verzweiflung. Ich hatte davor gar nicht gewusst, dass man überhaupt so tieftraurig und verzweifelt sein konnte. Das ganze Ausmaß meiner verdrängten Trauer brach über mich herein wie eine gigantische Welle aus Schmerz. Natürlich blieb das auch Julian nicht verborgen, als ich total aufgelöst nach Hause kam.

Auf seine Nachfrage hin brach alles aus mir heraus.

„Ich war bei Astrid und hab auf den kleinen Benjamin aufgepasst. Es war so schön! Ich weiß jetzt, dass wir es hätten schaffen können mit unserem Kind.“

Ich erzählte Julian alles von meinem Nachmittag mit Benni und meinen Gefühlen für ihn und der tiefen Trauer, die ich verspürte, wenn ich an unser Kind dachte.

Irgendwann merkte ich, dass Julians Blick nicht besonders mitfühlend war.

„Sarah, wir hatten das doch besprochen. Ich möchte keine Kinder!“

„Ja, aber…“

Julian ließ mich meinen Satz nicht beenden. „Sarah, wir wollten doch ins Kino, wenn wir das noch schaffen wollen…“, unterbrach er mich.

Ich konnte es nicht fassen. Hatte Julian mir überhaupt zugehört? Wie kalt konnte ein Mensch überhaupt sein? Noch dazu, wo er mich dazu gebracht hatte, das Kind nicht zu bekommen.

„Ist dir eigentlich egal, wie es mir geht?“, fragte ich ihn.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete er. „Aber stellst du dich gerade nicht ein bisschen arg an?“

Ich konnte ihn nur fassungslos anstarren. Unser gemeinsames Kind war tot. Gestorben durch unsere Hände, meine Hände, wie mir wohl erst jetzt in vollem Umfang klar war. Auch ein so kleines Leben bleibt ja doch ein Leben, auch wenn Abtreibung legal ist. Noch an diesem Abend habe ich meine Sachen gepackt und Julian verlassen. Seine Kälte gegenüber mir und damit verbunden die Tatsache, dass meine Liebe für ihn mich dieses Kind gekostet hatte, damit wollte ich nicht länger leben. Ich zog vorübergehend zu meiner Schwester, ihrem Mann und dem kleinen Benni, auch wenn deren Glück für mich manchmal schwer auszuhalten ist, so sind die drei doch auch meine Familie und meine Stütze in dieser schweren Zeit.

Ich habe eine Therapie begonnen, um zu lernen, mit meinem Schmerz zurechtzukommen. Aber es ist noch immer unglaublich schwer. Wahrscheinlich wird dieser gigantisch große Verlust nie ganz aufhören, wehzutun. Ich hoffe nur, dass ich irgendwann über das Schlimmste hinwegkomme.